Silver Head
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Die Musik, zu der wir tanzen werden
Schöner Artikel aus der "Zeit":
Zitat:
Im Techno und House ist nach Zeiten der Agonie eine neue Spielfreude ausgebrochen: Eine Recherche im deutschen Nachtleben.
Der Moment im Kollektiv: Wenn der Bass aussetzt, fliegen die Hände der Tänzer in die Höhe
Gutes altes Nachtleben. Wie lange geht das jetzt eigentlich schon so, dass auf den Tanzflächen, auf denen die jungen Leute sich bewegen, nicht die Nummern aus dem Radio, kein James Brown, kein Prince, auch nicht die neue Lady Gaga laufen, sondern jener »endlose, perfekte, immer gleich bleibende Beat«, der über Stunden, manchmal Tage nicht abbricht und von dem der Pop-Chronist Nik Cohn in seiner Erzählung Awopbopaloobop Alopbamboom schon vor vier Jahrzehnten geschwärmt hat?
Seit gefühlten Ewigkeiten läuft dieser Beat – und natürlich noch gar nicht so lange: Mit dem 24. Juli 2010, dem Tag der Toten von Duisburg, kam die Loveparade zu einem plötzlichen Ende. Seither kann es vorkommen, dass eine große Party wie das Berlin Festival, das kürzlich auf dem Gelände des Flughafens Tempelhof stattfand, gegen 23 Uhr geräumt wird. Aber diese Vorsichtsmaßnahmen ändern natürlich nichts daran, dass weiter getanzt, weiter gefeiert werden muss.
Die Männer, die den Clubbeat, der heute allgegenwärtig ist, vor Jahrzehnten in Deutschland zum Laufen brachten und das Abfeiern zur gesellschaftlichen Normalität erhoben – die DJs Hell (München), Sven Väth (Frankfurt), Westbam (Münster, Berlin) und Boris Dlugosch (Hamburg) –, so ganz allmählich sehen auch sie in etwa so alt aus, wie sie in Wirklichkeit sind: eher Ende 40, als gerade noch 30 Jahre alt. Die Helden von damals legen alle noch selber auf, ihre Namen stehen auf Plakaten, und sie werden von einer breiten Öffentlichkeit als Klassiker, coole Könige und Väter der Bewegung verehrt. Eine ganze Generation, die der heute 20- bis 40-Jährigen, ist mit dem Bumm der Techno- und Housemusik aufgewachsen, und wenn es einen Moment gibt, der zur kollektiven Erfahrung dieser Generation Techno taugt, dann ist es der, an dem der Bass auf der Tanzfläche für unendliche drei bis fünf Sekunden aussetzt: Die Hände der Tänzer gehen in die Höhe, und der Bass kehrt bumsend zurück, begleitet von den Jubelschreien der Tänzer.
Gleichzeitig passt in jene 22 Jahre, die seit jenem Signaljahr 1988 vergangen sind, in dem der Acid-House-Beat von England nach Deutschland importiert wurde, auch schon wieder ein ganzes DJ-Leben: Wir sehen einen jungen Mann mit dem Künstlername Boys Noize in einem Berliner Club hinter dem DJ-Pult seinen Sound herstellen. Der Junge trägt eine merkwürdig quietschbunte Kappe (haben wir doch wieder 1988?), und er spielt ein grandios furchtloses Set, in dem, einerseits, das ganze Wissen aus drei Jahrzehnten Clubmusik steckt und, andererseits, jene immer richtige Ignoranz für alles Vergangene, aus der der Pop seine Kraft zieht. Denn er, junger Mann mit verbotener Kappe, spielt ihn: den neuen Sound.
Der neue Sound: Was soll das, bitte, sein? Wird denn so etwas Altes, fast schon rührend nach gestern Klingendes wie der neue Sound überhaupt noch hergestellt? Nach den vielen Begriffen für Clubsounds, die seit den achtziger Jahren durch das Nachtleben fliegen – High Energy, House, Acid House, Techno, Jungle Techno, Trance, Tribal, Drum’n’Bass, Progressive House, Electro, Electro Clash, Minimal Techno – hat da irgendjemand noch Lust, sich einen neuen Begriff zu merken?
Schalten wir einen Gang zurück und stellen die einfachen Fragen: Was ist das für eine Musik, zu der die Menschen in den Clubs in diesen Wochen tanzen? Wie geht das, das Reden über allerneueste, gegenwärtige Tracks? Haben die, die die Clubmusik herstellen – DJs, Produzenten, Labelchefs –, selber eine Sprache für das, was in den Clubs läuft?
Treffen mit dem Urvater aller deutschen DJs, mit Westbam. Von der ersten, wirklich allerersten Minute an dabei, hat dieser DJ, Produzent, Labelchef (Low Spirit) und Initiator von Riesenraves (Mayday), bürgerlich Maximilian Lenz, zur Musik stets den Text, die schriftliche Reflexion mitgeliefert. Er steht seither im Ruf, das Gehirn des deutschen Techno zu sein – zumindest aber ein Kopf, der Spaß am Nachdenken, am Fabulieren und Kühne-Dinge-Behaupten hat. In einem Essay aus dem Jahr 1984 (Was ist Record Art?) beschrieb Westbam die Grundlagen des DJ-Handwerks. In dem Merve-Band Mix, Cuts & Scratches, erschienen 1997, besprach Westbam gemeinsam mit dem Schriftsteller Rainald Goetz das Abc des Techno und rief gleich noch, weil man gerade so schön warmgeplaudert war, das Zeitalter des Post-Rave aus. Zuletzt hatte sich Westbam – eine Woche vor den Toten von Duisburg und damit zu einem fast unheimlich gut gesetzten Zeitpunkt – mit einem Best-of-Album (A Love Story 1989 bis 2010) von der Loveparade verabschiedet.
Ein Gespräch zur Gegenwart des Techno? Aber gerne. Westbam stellt gleich einmal klar, dass er seit Jahren eigentlich keinen Club mehr betritt (sofern nicht er derjenige ist, der die Musik auflegt). Das Berghain zum Beispiel, den bestimmenden Berliner Club der nuller Jahre und bis heute vielleicht wichtigsten Technoclub der Welt, hat er nur einmal besucht: »Ich kann’s nicht über mich bringen. Entschuldigung, aber ich krieg’s einfach nicht hin.«
Wenn Westbam einen Stil nennen soll, der den Technosound der nuller Jahre bestimmt hat, dann fällt auch bei ihm der Begriff, der im letzten Jahrzehnt auf häufigsten zur Bezeichnung des gängigen Technosounds gefallen ist, und zwar immer dann, wenn die Leute eigentlich keine Vorstellung von Clubmusik hatten: Minimal Techno. Seit der Jahrtausendwende als Modevokabel im Umlauf, bezeichnete der Minimal ursprünglich eine auf die nötigsten Zutaten heruntergefahrene Variante des Techno (Vierviertel-Beat, Bass, Effekte): Tracks von nicht besonders hoher Geschwindigkeit (125 Beats per Minute), monotoner Struktur und umso hypnotischerer Wirkung.
Westbam kann nun nicht anders, als darauf hinzuweisen, dass der Begriff Minimal schon 1984 in seinem Textwerk auftauchte (»Record Art ist minimal music«), und dann erklärt er, warum Minimal ihm heute zur Feindvokabel taugt, zum Sammelbegriff für einen Sound, der ängstlich, leise, schwach und angepasst klingt, also ganz wie das Gegenteil vom geilen Größenwahn-Tätärä-Weltverbesserungs-Techno der neunziger Jahre: »Minimal, das ist die Kapitulation, der Projektionsort der Ideenlosigkeit.« Er, der einst den Begriff der »ravendenGesellschaft« prägte, erklärt sich den Sound des vergangenen Jahrzehnts natürlich politisch: Der Mangel an Visionen, die Bräsigkeit und Initiativlosigkeit der Politik seien auch im Techno zu hören. Westbam sagt: »Merkel-Minimal.« Der Techno-Vater ist zu klug, um seinen Abschied von der Tanzfläche mit dem Ende der Bewegung zu verwechseln. Westbam erklärt: »An dem, was ich heute in den Clubs vorfinde, möchte ich mich nicht beteiligen.« Und es klingt fröhlich, wenn er grollend nachsetzt: »Wenn überhaupt, dann möchte ich mich an der Abschaffung dieser Realität beteiligen.«
Gespräch mit DJ Hell alias Helmut Geier, einem anderen Urvater und Weltreisenden des Techno. Zu Beginn des Jahrtausends brachte Hell mit seinem Label International Gigolo Records die neue Lust an der Verkleidung, am Kitsch, am Drama und an den Synthesizer-Sounds der achtziger Jahre mit Acts wie Fisherspooner und Miss Kittin auf den Punkt: Das war maximaler, nicht minimaler Techno, der sogenannte Electro Clash.
Hell kann die Thesen des Kollegen nachvollziehen, kommt aber, was das Jetzt der Tanzmusik angeht, zu einem anderen Befund: »Es sind, musikalisch gesehen, offene Zeiten – wirre, konfuse, im besten Sinne chaotische Zeiten.«
Jene Kälte, Emotionslosigkeit und Gleichförmigkeit, die den Sound der nuller Jahre bestimmt hätten, erklärt Hell sich nicht aus großen gesellschaftlichen Strömungen heraus, sondern aus der Feierpraxis in den Clubs: Minimal, das sei auch der Soundtrack der Afterhour-Renaissance gewesen, die, ausgelöst durch Clubs wie das Berghain und die Bar 25, um 2004 und 2005 in Berlin stattgefunden habe. Wer um zwölf Uhr mittags nach stundenlangem Feiern einen Club betrete, der brauche auch musikalisch eine gewisse Sicherheit und Vorhersehbarkeit. Die Botschaft des Minimal sei gewesen: keine Überraschungen, keine Experimente. Wir bleiben auf einer Flughöhe. Du kannst dich darauf verlassen, dass diese Reise hier niemals enden wird. Der Gipfel der musikalischen Zumutung, so Hell, war erreicht, wenn der DJ kurz die Bässe rausdrehte.
Nachdenken mit DJ Hell, dem Grandseigneur des deutschen Nachtlebens, über die Gegenwart der Clubmusik: Mit dem Optimismus, der den Aktivisten des Nachtlebens eigen ist, erklärt er alle Klagen über den Minimal Techno für obsolet. Dieser Sound habe doch schon vor Jahren seinen Höhepunkt überschritten.
Und? Was läuft heute? Wie klingt er, der Sound, der gegenwärtig die Tanzflächen dominiert?
Geduldiges Lächeln im Gesicht des DJ-Vaters – er muss ein Phänomen erklären, das all denjenigen, die regelmäßig ausgehen, seit Monaten bekannt ist: »Alle Innovation im Techno liegt im Revival des Deephouse oder des sogenannten Vocal House.« Die Tanzmusik der Gegenwart – eine Wiederaufnahme, eine Neuinterpretation der Clubsounds aus den achtziger Jahren?
Als Deephouse, so bezeichnet man zu Beginn der Clubmusik, relativ exakt datiert seit 1986, eine ursprünglich aus Chicago stammende, eine langsame, weiche, melodiöse, oft melancholisch temperierte Ausrichtung des House: gesangslastige Arrangements, soulige Vocals, ein vergleichsweise langsamer Beat (zwischen 90 und 125 Beats per Minute). Deephouse hieß dieser House, weil die geschürten Emotionen tief, also warm und seelenvoll klingen sollten: mehr Stimme, Musik, Emotion, mehr Songstruktur. Man hört im Deephouse die Wurzeln des House, die im Disco liegen. Wenn es eine Logik gibt, nach der im Nachtleben stets eine extreme Mode die nächste ablöst, dann stimmt dieses Revival: Auf den kalten Trance des Minimal konnte es keinen stärkeren Kontrast geben als ein Revival des vocallastigen Deephouse.
Hell spricht beim Vocal-House-Revival von einem Sound, der heute ultramodern, ja geradezu technoid klinge. Im Gegensatz zum House aus den achtziger Jahren werde der neue House natürlich nicht analog, sondern vollständig digital produziert. Der Einsatz der Vocals bleibe reduziert. Über einem Bass, der so fett und tief klingt wie nie zuvor, liegen selten ganze Melodien, viel öfter auf Loops reduzierte Stimmschnipsel: Da mache es »Uuh-ah« oder »Oh yeah«, und das sei schon die ganze Stimme. Der melodiöse Teil könne aber genauso gut von einer Geige, einem Saxofon oder einer Panflöte kommen. Dass nach den kargen Jahren Melodien überhaupt wieder spielbar seien, das sei die Nachricht, das sei doch der Hammer. Mit den neuen Sounds, so Hell, habe sich der Höhepunkt der Nacht übrigens wieder nach vorne verlagert: Man feiere heute wieder zu den klassischen Ausgehzeiten, zwischen zwei Uhr und sechs Uhr früh. Kann Hell Namen neuer Clubprotagonisten nennen? »Hunderte. Es sind zu viele Namen, zu viele Produktionen. Die Frage heißt ja nicht: Wer macht den besten Sound? Die Frage lautet: Wer hat das Brett des Wochenendes produziert?«
Nachforschungen bei den vielen deutschen DJs, Produzenten, Musikern, die Woche für Woche irgendwie brillante, nicht ganz neuartig und doch aufregend klingende Technonummern ins Netz stellen: Auf Beatport, dem Online-Musicstore für elektronische Musik, sind es täglich an die tausend neue Titel. Der Konsens unter den Protagonisten des Nachtlebens lautet: Der Soul ist zurück.
Michael Mayer, Leiter des seit zehn Jahren allseits geachteten und in diesen wirtschaftlich schwierigen Zeiten erstaunlich konstant erfolgreichen Kölner Technolabels Kompakt, erklärt: »Minimal hat sich in Langeweile aufgelöst.« Und der Labelchef schwärmt vom neuen Album seines Kompakt-Künstlers Superpitcher: »Es geht wieder ums Ausprobieren, die Spielfreude ist zurück.« Für die Zukunft seines Labels formuliert Mayer ein erstaunlich klingendes Mantra: »Den Mechanismen des Trends und der Monotonie des Trendsetzens muss etwas entgegengesetzt werden. Letztlich geht es darum, etwas Neues durchzusetzen, das dann trotzdem kein Trend wird.« Und Mathias Modica, Chef des Münchner Neo-Disco-Labels Gomma und seiner Band Munk – er arbeitet gerade an der Fertigstellung des dritten Albums mit dem Titel Songs with Girls –, erklärt: »Früher gab es zwei Plattenläden pro Stadt, heute gibt es die Musikblogs im Internet. Du hast heute die musikalisch am besten gebildeten 17-Jährigen der Musikgeschichte.« Und der Labelchef illustriert die neue Offenheit und Bewegung, die es zwischen den deutschen Electro-Lagern gebe, die sich einst argwöhnisch gegenüberstanden, mit einer Insidergeschichte: Gerade habe der Gomma-Künstler Tomas Barfod vom Elektro-House-Trio WhoMadeWho für sein Soloalbum einen Vertrag bei Kompakt unterschreiben. Das, so Modica, sei früher undenkbar gewesen.
Und natürlich ist die Zahl interessanter Technomusiker, die interessante Dinge über den aktuellen Clubsound erzählen können, praktisch unendlich: Der Berliner Marcel Dettmann zum Beispiel, als Resident-DJ im Berghain und einmal im Monat in der Techno-Kathedrale Space auf Ibiza gebucht, sieht im englischen Dubstep, einer Fortentwicklung des Drum’n’Bass, den entscheidenden Einfluss. Ali und Basti Schwarz von der Formation Tiefschwarz, mit ihren Disco-Sets seit Jahren auf den Feierbühnen der Welt, auf Ibiza, in New York, Rio de Janeiro und Tokyo zu Hause, erklären, einigermaßen vieldeutig: »Hüpfen kannst du zu den neuen Sounds nicht. Aber du kannst schön tanzen.« DJ Rampa vom Berliner Techno-Kollektiv Keine Musik behauptet – und dabei schwingt eine ironische Anspielung auf die Tatsache mit, dass das Über-Clubmusik-Reden nicht ganz einfach ist: »Vocals sind zurzeit echt sau-in.« Und sein Partner And Me plaudert aus dem Setzkasten des Technoproduzenten: »Gefragt sind im House derzeit möglichst exotische Percussions, Congas, Bongos, Timbales, Maracas, Schlaginstrumente aus Afrika und Lateinamerika.« Richie Hawtin, als Mr. Minimal bekannte Techno-Legende, in Kanada geboren, seit 2004 mit Wohnsitz in Berlin, antwortet auf die Frage, wie es Techno im Frühherbst des Jahres 2010 geht: »In drei Wörtern: Techno ist massiv.« Auf die Frage, welcher Clubsound der bestimmende der Gegenwart sei, wird der Chef des berühmten Minus-Labels ganz wunderbar konkret: »Das Tempo hat sich bei einem für den Körper angenehmen Maß eingependelt. Nach 25 Jahren Techno wissen wir: Etwa 128 Beats per Minute sind ideal.« Ein anderer alter Bekannter, die Berliner Nachtleben-Legende Fetisch, seit 1982 als DJ und Elektro-Produzent unterwegs, liefert seine eigene, grandios klingende Überschrift für die gegenwärtige Stimmung: »Tatsächlich, die Musik ist wieder gefälliger geworden. Die Leute bewegen sich anders, fast wie zu Disco-Zeiten. Auf der Tanzfläche sind weniger die Arme, mehr der Arsch im Einsatz. Gute Zeiten für den Körper.«
Und in einem Studio in Berlin-Mitte bastelt derweil der junge Mann – der mit dem Künstlernamen Boys Noize – an einem Rave-Sound, den Experten für den Clubsound der Zukunft halten. Die neue Housemusik, die findet der junge Mann ganz okay – und auch ein bisschen langweilig. Gebeten, seinen eigenen Sound zu beschreiben, zögert der Künstler. Und erklärt: »Ich hab’s, glaube ich, ganz gerne, wenn’s ein bisschen mehr reinzeckt.« Alles gesagt. Es sind wunderbar vielsagende und rätselhafte Worte.
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