Quo Vadis Drum & Bass?
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Im Jahr 1999 veröffentlichte Brian Belle-Fortune das Buch „All Crew
Must Big Up - Journeys Through Jungle/Drum & Bass Culture“. Brian selbst
war schon seit langem mit der Szene verknüpft. Er produzierte mit „One
In The Jungle“ 1994 das erste englische Radioformat für D&B/Jungle,
war Label Manager bei London Some‘Ting Records und spielte als DJ unter
dem Namen Zy:On für die Piratenradiosender Rude FM und Ruud Awakening. Sein
Buch avancierte schnell zur Bibel der D&B Anhänger, was auch nicht verwunderlich
ist, da nie zuvor ein Charakter aus dem engeren Kreis der Szene selbst die Feder
in die Hand nahm, um die Geschichte und Hintergründe, sowohl die Künstler
als auch das Publikum gekonnt und in diesem Format zu beleuchten. Der schnell
vergriffenen Erstauflage folgte 2000 eine editierte Neufassung, welche ebenso
schnell wie veröffentlicht selbst auch schon wieder ausverkauft war.
Dieses Jahr schließlich kam unter dem gekürzten Titel „All Crews“
die lang erwartete Neufassung in die Läden. Belle-Fortune fügte der
alten Fassung etwa ein Drittel an Umfang hinzu, in dem er auf diverse Neuerungen
eingeht, die D&B in den letzten fünf Jahren beeinflusst haben.
Getan hat sich einiges, aber ist es für ein Mitglied der UK Szene, die nach
wie vor das Mutterschiff dieser Musikrichtung ist, aber leider auch oft sehr isoliert
und festgefahren erscheint, überhaupt möglich die Geschehnisse unvoreingenommen
und jenseits aller Musikpolitik zu beurteilen? Was tut sich wirklich im D&B
zur Zeit?

Jeder D&B Liebhaber, sowohl DJ oder Produzent, als auch Veranstalter oder
Raver kann sich mit Sicherheit noch an den Moment erinnern, als das Gewitter aus
Beats und Bass erstmals über ihn hereinbrach und nicht mehr losließ.
Ob es nun beim Hören der „Slammin‘ Vinyl“-Kassette eines
Freundes im Auto war oder ob man zufällig auf eine Party geriet und einfach
weggerissen wurde, die Initialzündung bleibt unvergessen. D&B vermittelte
das Gefühl, gleichzeitig im Underground als auch an der Speerspitze musikalischer
Evolution zu stehen.
Da die Medien wie Presse oder Fernsehen der geliebten Musik kaum Beachtung schenkten,
war es oft auch das Gefühl „Wir gegen den Rest der Welt“, dass
die Szene zusammenhielt. Die Götter, die Kreativen, die uns diese Musik gaben,
kamen aus England und das war nur recht und billig, hatten sie doch diese Form
von elektronischer Tanzmusik erfunden. Fand einer dieser Großmeister wie
DJ Hype, Andy C oder Randall seinen Weg nach Deutschland, war das immer ein Anlass,
geschlossen, entschlossen und natürlich alle Alltagssorgen ausgeschlossen
zu feiern, als ob es kein Morgen gäbe.
Peace, Love & Unity! Im Jahre 2005 reicht es schon lange nicht mehr einen
der Obengenannten zu buchen, um ein garantiert volles Haus zu haben. D&B ist
erwachsen geworden. Den Spirit vergangener Zeiten findet man vielleicht noch an
den neuen Fronten der Bewegung, wie dem früheren Ostblock und Südamerika.
An diesen Außengrenzen scheint die Welle gebrochen und nach England zurückgerollt
zu sein. Hinterlassen hat sie in Deutschland eine mehr oder weniger gesunde Szene,
die ausgehend von noch bestehenden oder längst vergangenen D&B-Metropolen
wie Mannheim, Bremen, Hannover oder Köln tiefe Wurzeln geschlagen hat. Vielleicht
gerade auf Grund der schon länger eingetretenen Ernüchterung muss man
sich, wie nach einer guten Party, den Problemen des Alltags stellen. Diese sind
im D&B sowohl internationaler als auch nationaler Natur. Es ist an der Zeit
diese Probleme näher zu beleuchten.
It’s a world-wide thing – Die Globalisierung
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„The UK is still the birth place and people
like me are still the original founders, so please don’t fuck
up my scene” |
DJ Hype (True Playaz) |
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Jungle/D&B wird als die einzige Spielart von Dance Musik gehandelt, welche
ihren Ursprung einzig und allein in England hat. Eine Globalisierung ließ
sich aber natürlich durch die international steigende Nachfrage nicht verhindern
und war schlicht zumindest auf der einen Seite sehr erwünscht. Englische
DJs flogen mit stolz geschwellter Brust in die ganze Welt hinaus und durch den
zusätzlich stetig wachsenden Absatzmarkt an Platten, selbstverständlich
fast ausnahmslos „Made In UK“, entstand eine Wirtschaftsstruktur die
der weiteren Entwicklung erst den Weg ebnete.
In wenigen Jahren bildete sich ein Mikrokosmos aus Labels, Vertrieben, Promotern
und Booking-Agenturen, welche jenseits vom Musik-Mainstream ein gewinnbringendes
Geschäft betrieben. Verkauft wurde von England ins Ausland, sowohl Platten
als auch Künstler. Weltweit entstanden so Szenen, die sich aber alle mehr
oder weniger ihrerseits stark an der englischen Leitkultur orientierten, da diese
lange Zeit kreativ den Ton angab. Mehr oder weniger bedeutet hier, dass es natürlich
außerhalb Englands nie ein Ebenbild der dortigen Bewegung geben konnte,
da jedes Land seine eigenen kulturellen, sozialen oder musikalischen Hintergründe
hat. Gerade auch auf Seiten der Künstler und Aktivisten generell muss also
folglich früher oder später der Anspruch gestellt werden, D&B seine
eigene individuelle Note zu geben.
Viele Kritiker sagen heute, dass sich gerade die Urväter dieser neuen Entwicklung
mit all ihren neuen Impulsen zu lange verschlossen und somit der Bewegung allgemein
geschadet haben. Über die Frage, warum das so sei, kann man nur mutmaßen.
Zunächst liegen natürlich wirtschaftlich monopolistische Gründe
nahe. In England hatte man sich über all die Jahre eine zentrale Vormachtstellung
aufgebaut, die man sicherlich nicht so einfach aufzugeben bereit war. Beispielhaft
gelten hier die familiären Strukturen, gegen die grundsätzlich nichts
einzuwenden ist, aber es bleibt doch ein fader Beigeschmack von Protektionismus,
wenn sich bei DJ XY (Name der Redaktion bekannt) die Lebensgefährtin um die
Bookings kümmert, der gemeinsame Sohn ebenfalls auf dem Roster zu finden
ist und er die Möglichkeit hat, auf Daddys Label einen Release zu bekommen.
Selbst Digital hat uns erst kürzlich bekundet, dass er auf der letzten Timeless
EP zwei Tunes raufgenommen hat, da jene Produzenten seit Jahren zum inneren Zirkel
der Timeless- Crew gehören. Qualität hat an dieser Stelle keine Rolle
gespielt.
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„Die Verkaufszahlen sind rückläufig
und zu viele Plattenfirmen veröffentlichen unausgegorene Tunes,
aber es ist immer noch jede Menge gute Musik im Umlauf.“ |
Colin Steven (Knowledge) |
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Des Weiteren wurde ja schon klar, dass man D&B auf der Insel als Eigenkreation
sieht, die man auch musikalisch vor äußeren Einflüssen bewahren
wollte. Diese Politik ist aber wie man schnell erkennen musste sehr kurzsichtig.
Wie auch im Mainstream wurde verkannt, dass es nötig ist, nationale Märkte
und vor allem (neue) Künstler aufzubauen, um ihren Fortbestand zu sichern.
Dass man den Fortschritt nicht aufhalten kann, musste also früher oder später,
vielleicht auch mit einigem Zähneknirschen anerkannt werden. Ein erstes Beispiel
für die Etablierung von nicht englischen Künstlern war DJ Marky aus
Sao Paolo/Brasilien. Entdeckt von Bryan Gee spielte und produzierte er sich mit
beachtlicher Geschwindigkeit in die Herzen der D&BGemeinde. Sein Hit „LK“
chartete in die englischen Top 20 und überzeugte auch den letzten Zweifler
davon, dass Talent keine Landesgrenzen kennt.
Eine nicht gerade geringe Rolle bei der Globalisierung spielte zudem das Internet.
Da im Bereich der elektronischen Musik ohnehin Hand in Hand mit dem Computer gearbeitet
wurde, war eine Erschließung des Netzes sehr schnell vollzogen. Es entstanden
erste Webseiten, auf denen man sich Musik anhören, Party-Termine checken
und sich vor allem austauschen konnte. Eine zentrale Rolle beim Networking übernahm
vor allem der AOL Instant Messenger, kurz AIM. Mit diesem Chat Programm war es
möglich, Daten und Informationen ohne großen Aufwand auszutauschen.
Mit Hilfe des AIM begann eine der rasantesten Karrieren in der jüngeren Geschichte
des D&B und zugleich ein musterhaftes Beispiel für das Verschwimmen seiner
Grenzen.
„Die weltweite Szene ist Dank der Hilfe
des Internets miteinander verbunden und bringt Produzenten und Labels
aus allen Teilen dieser Erde zusammen.“ |
Random Movement (Bassbin/ Innerground) |
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Das bisher völlig unbekannte Produzenten Kollektiv Pendulum aus Perth in
Australien schickte sein Stück „Vault“ an 31 Records‘ Besitzer
Doc Scott, der es, ohne zu zögern, auf seinem Label veröffentlichte.
Der Erfolg war überragend. „Vault“ wurde zum größten
Hit des Jahres und katapultierte Pendulum in die erste Liga der Produzentengarde.
Mit Concord Dawn aus Neuseeland, Hive aus den U.S.A., Noisia aus den Niederlanden
und zahllosen anderen folgten viele weitere.
Stilvielfalt und Subgenres
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„Drum & Bass wird niemals sterben,
aber die besten Produzenten werden vielleicht dazu genötigt,
aufzuhören Musik zu machen, wenn die Leute weiterhin kostenlos
deren Musik runterladen.“ |
Dom & Roland (D&R Productions) |
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Dass im D&B zahlreiche Einflüsse zu einem völlig neuen Kontext verarbeitet
werden, ist eines der Grundprinzipien dieser Musik. Dem Anspruch der bedingungslosen
Innovation und der völligen Ausreizung des Studio-Equipments hatte sich die
Szene selbst unterworfen. So kam es schließlich auch, dass der Name der
Musik sich zunächst von Hardcore in Jungle und schließlich in D&B
änderte. Und das innerhalb von etwa fünf Jahren! Die Einflüsse
kamen aus House, Reggae, Jazz, Soul, Techno und fast allen Spielarten der Musik.
Grenzen gab es keine, und genau ist ja so interessant. Die Ansätze mögen
auch noch so verschieden gewesen sein, alles fungierte unter einem Dach und entwickelte
sich rasend schnell weiter.
Sobald ein Produzent einen neuen Ansatz einführte, wurde dieser von zahlreichen
anderen Musikschaffenden aufgegriffen und konsequent weiterverarbeitet. Auf diese
Art und Weise entwickelten sich zunächst Subgenres wie Darkside, Tech Step,
Intelligent und Jump Up, später dann weitere Spielarten wie Liquid Funk,
Drumfunk oder Neurofunk. Jedes Subgenre hatte seine eigenen Produzenten, Labels
und Events. Im Jahr 2005 kann man ohne Bedenken behaupten, dass die Stilvielfalt
noch nie so umfangreich gewesen ist. Die Globalisierung ist hier nicht als Ursache
zu sehen, sondern geht vielmehr einher mit dieser Entwicklung, denn durch den
viel größer gewordenen Pool an Produzenten ist natürlich auch
die Zahl der verschiedenen Ansätze rapide gewachsen. Stilvielfalt ist aus
musikalischer Sicht durchaus zu begrüßen, birgt aber auch Neuerungen,
die sich langsam deutlich bemerkbar machen.
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„Es ist aufregender als jemals zuvor, da
die Leute schlussendlich die Vielfalt der angebotenen Stile zu schätzen
wissen.“ |
Logistics (Hospital) |
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Feierte die Bewegung früher immer im gleichen Haus, so wird langsam eine
Art Rivalität unter den Anhängern der einzelnen Subgenres deutlich.
Freunde des ruhig groovigen Liquid Funks können z.B. der harten technoiden
Variante oft nichts abgewinnen und vice versa. Der Einheitsgedanke, ein Grundpfeiler
der Bewegung droht verloren zu gehen. Laurent Garnier sah diese Entwicklung schon
Anfang der 90er Jahre, damals für elektronische Musik im Allgemeinen und
liefert in seinem Buch „Elektroschock“ auch eine logische Erklärung.
Damals fand man auf den Raves noch eine Stilvielfalt aus House, Techno, Hardcore
und Breakbeat. Unter dem Motto „We are one family“ wurde diese Musik
zelebriert, ohne auf Genregrenzen zu achten. Erst mit dem Vollzug eines Generationswechsel
änderte sich alles. Neue Gesichter kamen in die Bewegung und trieben vor
dem Hintergrund ihrer jeweiligen Vorlieben eine Trennung der Genres voran. Das
Ergebnis ist allseits bekannt. Eine Veranstaltung, in der House-, Gabber-, Techno-
Anhänger und Junglists Seite an Seite feiern, ist ein Ding der Unmöglichkeit
geworden. Falls sich die Entwicklung des D&B auf eine Spaltung zu bewegt,
ist dies wahrscheinlich nicht aufzuhalten. Zu groß ist die Eigendynamik
der Szene und zu unwahrscheinlich die Möglichkeit diese Dynamik zu kontrollieren.
„Die Musik als Ganzes ist gesund, aber
ein Teil der Experimentierfreudigkeit ist zur Wissenschaft verkommen.“ |
Chris Ball (Label Manager Metalheadz) |
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Mitte der 90er gab es allerdings schon einmal eine solche Abspaltung, die sich
vollzog, ohne die verschiedenen Lager völlig zu entzweien. LTJ Bukem sah
damals die Zukunft des D&B eher auf der Seite des Ambient/Intelligent und
beschloss, mit seinem Label Good Looking eigene Wege zu beschreiten. Sein Entschluss
trug Früchte und Good Looking wurde zu einem von allen Seiten respektierten
Imprint, ohne das Mutterschiff D&B zu verlassen. Ähnlich könnte
auch eine Zukunft der aktuellen Subgenres aussehen. Eine Weiterentwicklung in
eigenen Bahnen, jedoch nach wie vor unter einem Dach. Ansätze zur sinnvollen
und sehr vielseitigen Weiterentwicklung gibt es ohne Zweifel mehr als genug.
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„Da sich die D&B Szene stetig ausdehnt,
bekommt sie permanent Einflüsse durch neue Talente aus den verschiedensten
Regionen der Welt.“ |
Alex Farber (Drum & Bass Arena) |
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Problematischer als die Herausbildung von Subgenres ist allerdings die Existenz
derer, die meinen, die Weisheit gepachtet zu haben und ihre favorisierte Stilrichtung
als das non plus ultra betrachten zu müssen. Diese, nennen wir sie einfach
Nerds, müssen neben ihrem jeweiligen Style-Fanatismus allen anderen Stilrichtungen
ihre Daseinsberechtigung absprechen. Wie so oft sprechen diese „Hater“
ihre Meinung selten offen aus, sondern beschränken sich zumeist auf Diskussionen
in der Anonymität des Internets. Beschränkt ist eindeutig auch ihre
Einseitigkeit und Arroganz, denn ohne die jahrelange Verarbeitung verschiedenster
Einflüsse und genreübergreifender musikalischer Ansätze würde
es heute keines der jeweiligen Subgenres geben. In kreativen Köpfen existieren
keine Grenzen.
Just dance and move your body - Die Rave- und Clubkultur
Dance Musik ist, wie der Name schon sagt, Musik, die zum Tanzen gedacht ist. Mit
Acid House hat die Dance Musik in Europa ihren Ursprung auf den Feldern und Lagerhäusern
Englands, was sich auch bis zur Verabschiedung der Criminal Justice Bill 1994
nicht änderte. D&B ist in dieser Hinsicht ein unverkennbarer Enkel von
Acid.
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"Musikgenres etabliert; überall auf
der Welt sind die Clubs voll und auf den Festivals sind die Jungle-Zelte
immer die angesagtesten.“ |
Zinc (Bingo) |
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Nach wie vor strömen Tausende zu Großevents alá One Nation,
Slammin‘ Vinyl oder der deutschen Variante Kings of the Jungle. Fragt man
jedoch einen DJ, ob er Rave oder Club Auftritte bevorzugt, wird fast immer letzteres
genannt. Der Grund dafür sind die immer wahnwitzigeren Line-Ups, die den
DJs meist maximal eine Stunde Zeit geben, um ihr Set zu bestreiten. In dieser
kurzen Zeit, die keinen Raum lässt, ein Set systematisch aufzubauen, will
der jeweilige Künstler dann auf Nummer sicher gehen und beschränkt sich
dementsprechend auf Stücke mit der größtmöglichen Schnittmenge
an Hitpotential. Dieses sogenannte „Anthem Bashing“ sorgt schließlich
dafür, dass alle Künstler im Endeffekt die gleichen Platten spielen.
Wer wirkliche musikalische Qualität und Abwechslung sucht, ist auf Raves
also fehl am Platz.
Gerade in Deutschland sind die Raves nach wie vor dominiert von englischen DJs,
ohne die es für die Veranstalter fast unmöglich wäre, die benötigte
Besucherzahl zu erreichen. Daraus ergibt sich aber vor allem in den D&B-Metropolen
wie zum Beispiel Mannheim ein regelrechter Teufelskreis: Ein Veranstalter muss
UK Artists buchen, um Besucher anzuziehen. Sind die Besuche internationaler Gäste
zu häufig, verliert ihre Anwesenheit an Attraktivität. Die Folge ist,
dass man gezwungen ist, noch mehr und noch hochkarätigere internationale
Künstler zu verpflichten. Und so weiter und so weiter...
Offensichtlich führt diese Entwicklung früher oder später in eine
Sackgasse und am meisten leidet darunter die deutsche Szene selbst, die sich auf
den Raves als Vorprogramm für oft ausgebrannte Top Stars verdingen muss.
Der Raver bekommt so zudem nur ein verzerrtes Bild von der Realität im eigenen
Land. Er interessiert sich nur für die Party und den Spaß, den er dort
hat. Woher soll er auch wissen, dass der deutsche DJ XY es ebenso verdient, gefeiert
zu werden wie sein englischer Kollege YZ, wenn der eigene Landsmann immer um 23
Uhr vor einer halb leeren Halle spielt, wogegen der schon auf dem Flyer hoch angepriesene
Gaststar schließlich um 3 Uhr morgens voll abräumt. All diese Faktoren
haben inzwischen dazu geführt, dass man auf Raves ein eher junges Publikum
zwischen 13 und 24 Jahren antrifft. Dieses Publikum sucht die wilde Party und
orientiert sich sehr an den durch englische Tapepacks und Szene Superstars vorgegebenen
Mustern.
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“Nach dem großen D&B Hype Mitte
der 90er wurde es versäumt die Szene weiter aufzubauen. Zudem
wurde die Musik masseninkompatibler. Seit gut drei Jahren geht es
wieder bergauf. Die deutsche Szene verschafft sich mehr und mehr eine
eigene Identität, die Musik wird tanzbarer und viele junge Headz
begeistern sich für unsere „Randmusik"." |
Kai (future-music.net) |
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D&B Hörer, die sich intensiver mit den verschiedenen Subgenres jenseits
des UK Hypes auseinander gesetzt haben, bevorzugen folglich eher die Clubkultur.
In den Clubs besteht eindeutig eine größere Chance, einer umfassenden
Bandbreite aktueller Produktionen jenseits der Rave Hits zu lauschen und auch
DJ-Sets mitzuerleben, die von Anfang bis Ende schlüssig und gut überlegt
sind. Internationale Headliner findet man hier meist nur ein oder zwei, viele
Clubabende kommen sogar gänzlich ohne sie aus. Clubevents gibt es inzwischen
in fast jeder deutschen Großstadt während sich die Raves nach wie vor
auf Hochburgen wie Mannheim, Bremen und Hamburg konzentrieren. Ein integraler
Bestandteil der Rave- und Clubkultur ist der Konsum von Drogen, wo wie in fast
allen Jugend-Szene-Kulturen.
Der Besuch eines Raves gehört unweigerlich ins Repertoire eines jeden jungen
Menschen, gerade in der Phase der Pubertät, aber nicht unbedingt wegen der
riesigen Ansammlung von namhaften Plattendrehern oder der zu hörenden Tanzmusik,
sondern um in den Genuss von bewusstseinserweiternden Stoffen zu geraten. Dieses
Verhalten wird ihnen auch von jenen „Idolen“ in aller Öffentlichkeit
vorgelebt. Man könnte in epischer Breite ausführen, wen man nicht alles
schon im Backstage oder im Hotelzimmer beobachtet hat beim Konsum diverser Drogen.
Es ist auch nicht unsere Aufgabe, den Moralapostel zu mimen, aber man darf es
ruhig als verwerflich empfinden, wenn die Behauptung aufgestellt wird, dass man
nur harte und teure Drogen zu sich nehme, um seinen persönlichen Reichtum
zur Schau zu stellen.
Nicht selten darf der Veranstalter oder der Clubpromoter als Drogenkurier fungieren.
Und was ist die Konsequenz? Einige DJs sind nicht mehr Herr der Lage und legen
Sets ab, die jeglichen Beschreibungsversuch unmöglich machen oder Raver,
die eigentlich nicht realisieren, was mit ihnen im Hier und Jetzt geschieht. Nicht
selten sagen dann auch die Protagonisten hinter den Plattenspieler, dass sie es
bevorzugen, vor etwa 50 Musikbegeisterten zu spielen als vor einem tausendfachen
Haufen voller Drogenopfer. Wie die Musik sind leider auch die Drogen ein kaum
mehr wegzudenkender Bestandteil Rave- und Clubkultur.
Morgens halb zehn in Deutschland - D&B in Germanien
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„Musikalische Impulse sind gerade eher Mangelware, jedoch
starten die deutschen Produzenten gerade (international) richtig durch.“ |
Lightwood (Santorin) |
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Deutschland war eine der ersten Anlaufstationen, die von D&B beziehungsweise
damals noch Hardcore oder Breakbeat erreicht wurde. Wie auch in England und Frankreich
gab es hierzulande schon seit den späten 80er Jahren eine Rave-Bewegung mit
ihren Aushängeschildern „Love Parade“ (seit 1989) und „Mayday“
(seit 1991). Der Startschuss für die deutsche Jungle-Bewegung wurde schließlich
1992 im Mannheimer „milk!“ gegeben. Groover Klein und Bassface Sascha,
die „milk!“-Residents, schafften es, eine große Szene im Rhein-Neckar-Gebiet
zu etablieren und vertraten den UK Sound sowohl auf der „Love Parade“
als auch der „Mayday“. Andere Städte zogen schon bald nach, so
dass heute fast jeder Teil Deutschlands wehmütig auf seine Kultlokalitäten
zurückblicken kann. Zu nennen wären da neben dem „milk!“
vor allem die „Weltspiele“ und das „“Hanomag in Hannover,
das „Backstage“ in München, das „XS“ in Frankfurt
und viele weitere.
Nach einer anfänglichen Entwicklung auf den jeweiligen lokalen Ebenen gewann
die Szene immer mehr an Profil und nach einigen Jahren hatte Deutschland eine
funktionierende D&B-Infrastruktur mit eigenen Imprints wie Smokin’ Drum,
hard:edged, Santorin, Basswerk, Precision und U3R. Viele Gesichter von damals
wie Bassface Sascha, X-Plorer, The Greenman, Kabuki, Mad Vibes oder Metro haben
zwar an Falten dazu gewonnen, beschallen aber nach wie vor die Partycrowds mit
ihrem jeweiligen Stil. Trotz dieser schon fast 15-jährigen Entwicklung scheint
man in Deutschland, immer noch nach der eigenen Identität zu suchen. Ob ein
Stil wirklich als „deutsch“ betrachtet werden kann, ist fraglich,
da fast jeder deutsche Künstler seinen eher persönlichen Weg geht. Vielmehr
wird die eigene Szeneidentität von einem Großteil des Publikums zurückgewiesen
und dem internationalen Level untergeordnet. Vielleicht liegt es daran, dass deutsche
Künstler auf internationalem Niveau bisher wenig Beachtung fanden.
„D&B ist monströser als je zuvor
- die nächste Generation kommt; eine neue Galaxie zwischen Neurofunk,
Rave, Dub, Liquid Funk, Pop - und auch endlich wieder Electro.“ |
The Green Man (Basswerk) |
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Die wirklich erfolgreichen Veröffentlichungen aus Deutschland vor 2001 sind
mit Makais „Beneath The Mask“ und Panaceas Album „Low Profile
Darkness“ schnell genannt und danach kam erst mal ganz lange gar nichts.
Erst jetzt, wo sich der eiserne Vorhang, der lange Zeit um die Insel England gespannt
war, langsam öffnet, sind auf einmal auch deutsche Künstler ganz vorne
mit dabei. Verewigen auf hochrespektablen UK Labels konnten sich bisher alte Haudegen
wie der Frankfurter Kabuki (Bingo), X-Plorer aus Köln (Metro) sowie frische
Talente wie Phace (Subtitles), Syncopix (Hospital), AJC (Renegade Recordings),
um nur einige zu nennen. Diese ungewohnte Aufmerksamkeit wird dem deutschen D&B
mit Sicherheit gut tun.
Durch Diskussionsforen wie das Future Music Network, als auch durch Veranstaltungen
wie z.B. die „Made in Germany“-Partyreihe wurden sowohl virtuelle
als auch handfeste Basen geschaffen, um die deutsche Bewegung weiter zu vernetzen.
Der Grundstein ist gelegt und vielleicht ist es jetzt auch mehr als zuvor Sache
der Veranstalter, diese Entwicklung auf ihren Events zum Ausdruck zu bringen und
zu fördern. Mit ein bisschen Glück und noch mehr Talent wird Jungle
in Deutschland einen eigenen Weg finden und seine Propheten auch im eigenen Land
zu Ehren kommen lassen.
Deep in the Underground - Die Zukunft
„Quo vadis domine“, wohin gehst du Herr, fragte der wiederauferstandene
Jesus seinen Jünger Petrus, als dieser sich vor der Christenverfolgung in
Rom retten und die Stadt verlassen wollte. Petrus war beschämt, sollte er
doch Gott als erster Papst in der heiligen Stadt Rom vertreten. Er kehrte um und
wurde wenige Zeit später ans Kreuz geschlagen.
Quo vadis, rufen viele auch in Richtung D&B. Wohin entwickelt sich unsere
Bewegung? Geht sie den einfachen Weg, um schließlich jegliche Inspiration
zu verlieren und sich selbst das eigene Grab zu schaufeln oder besinnt sie sich
auf ihre eigentliche Stärke und frühere Attribute wie Innovation, Experimentierfreudigkeit
und Qualität?
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„Kein Kommentar.“ |
Digital (Timeless/Function) |
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Es ist schwer, eine Entwicklung vorherzusagen, aber es besteht Handlungsbedarf.
Wirtschaftlich sieht es wie überall in der Musikindustrie denkbar schlecht
aus. Die Vinylverkäufe sind im Keller, der Markt wird überschwämmt
mit 08/15-Stücken und der Graben zwischen den einzelnen Lagern wird tiefer.
Im Underground bleiben, das ist vielen wichtig. Aber was soll überhaupt dieses
ganze Underground-Gefasel? Was ist denn überhaupt Underground? Ich denke,
dass die meisten damit einfach meinen, das Gefühl zu bewahren, etwas Besonderes
zu sein, Mitglied einer Bewegung zu sein, die in sich geschlossen ist oder ein
Geheimnis zu hüten, das es zu bewahren gilt. Irgendwie schon verständlich,
aber was geht uns denn verloren, wenn sich die Szene öffnet und sich vor
allem auch endlich professioneller organisiert? Wenn ich auf einem Rave durch
die Reihen schaue, denkt man ohnehin schon, dass es nicht mehr schlimmer kommen
kann.
Die Junglists, die sich am meisten verschließen und „Underground“
brüllen sind doch gerade die, die sich am wenigsten mit D&B beschäftigen,
immer auf der Suche nach Stücken, die sie schon tausendmal auf UK Tapes gehört
haben, immer in der Schlange stehend, um schnell noch ein Autogramm auf ihr Plastikhorn
zu bekommen und immer noch wach, wenn die Party schon längst vorbei ist.
Diese Leute, immer leere Phrasen griffbereit, sitzen traurigerweise am tiefsten
im bereits realen Ausverkauf von D&B. Dieser Ausverkauf, der hier thematisiert
wird, entbehrt leider jeglichem professionellen und ideellem Hintergrund, ja gleicht
sogar eher dem sprichwörtlichen Melken der Kuh bis nichts mehr kommt. Jeder
will noch ein Stück vom Kuchen abhaben und da interessiert es auch keinen,
dass seit mehr als zwei Jahren nur noch Schmalspurproduktionen auf Raves zu hören
sind. Dies hat nichts mit einem bestimmten Genre zu tun, sondern mit einem erschreckenden
Mangel an Qualität und Liebe zur Musik.
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„Um ehrlich zu sein, ich denke, dass 80% der Drum & Bass
Musik völliger Müll sind, auf einen gemeinsamen Nenner gebracht
billige „Wegwerf-Rave-Musik“; die restlichen 20% sind
sehr interessante und reife Musik. Das Problem ist, wenn die in der
Szene involvierten Personen nicht allmählich aufwachen und über
das Morgen nachdenken anstatt an das Heute, dann wird sich die ganze
Sache selbst zerstören. Wo ist die Kunst, wo ist die Phantasie,
wo ist verdammt noch mal die Liebe zur Musik? Ich sehe es nirgends.“ |
Marcus Intalex (Soul:r/Revolve:r) |
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Bevor diese Passage wieder zu erneuten Hasstiraden führt, muss man zusätzlich
anmerken, dass man die Engländer, in ihrem Bestreben D&B massenkompatibler
und finanziell gewinnbringender zu machen, ohne weiteres verstehen kann. Viele
von den damals jugendlichen Produzenten, Labelinhabern und Promotern sind in die
Jahre gekommen, haben Familien gegründet und müssen ihre monatlichen
Rechnungen bezahlen. Jungle ist ein Geschäft geworden. Verstehen heißt
aber hier nicht gutheißen, denn ein bisschen mehr Mut zur Erhaltung der
musikalischen Kreativität wäre trotzdem wünschenswert.
Abschließend möchten wir festhalten, dass wir sicherlich nur einen
kleinen Ausschnitt all der aktuellen Entwicklungen und der bestehenden Probleme
in diesem Beitrag widerspiegeln sowie den Ausblick nur prognostizieren können.
Gerade bei der Ausarbeitung und Gestaltung hat sich die Komplexität der gewählten
Thematik gezeigt, was auch unseren Ansprechpersonen Kopfzerbrechen bereitet hat.
Wir möchten auch zum Ausdruck bringen, dass wir die Weisheit nicht für
uns gepachtet haben. Unsere inneren Stimmen sagten uns schlichtweg, dass es an
der Zeit sei, mal in ausführlicher Manier, das eine und andere Wort über
die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft von D&B zu schreiben.
Text: Chris "Shady" und Gia-Thien (Julia
2005)
Der Text erschien im LEVEL47
Magazin Juli/August 2005 und wurde future-music.net freundlicher Weise zur Verfügung
gestellt.
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